Kinder sind Kinder sind Kinder

Wer nach 22 Jahren die Sorge hat, dass ich als Kind ganze 6 Schultage zum Kopftuch gezwungen wurde, ist durchtränkt von der Propaganda

Es gibt ein Foto von mir, vierjährig wahrscheinlich, betend auf einem Gebetsteppich. In Pyjama und, nein, nicht mit einem Kopftuch, sondern mit einer „Takke“. Eines, das muslimische Männer tragen. So wie mein Vater auch. Mir hat das gefallen, wie er betet, im Gegensatz zu meiner Mutter, so dass ich ihn nachahmen wollte. Im Pyjama wohlgemerkt! Wahrscheinlich, weil mein Pyjama einem Hosenanzug am nächsten kam. Jedenfalls war mein Vater voll cool! Und als selber cooles Kind wollte ich natürlich auch weiterhin cool sein/bleiben. Und der festen Überzeugung, dass das so richtig und toll ist, was ich da tue, war ich auch. (Meine Familie fand das eher lustig).

Meine Oma (mütterlicherseits) fand ich auch sehr cool. Ich, Stadtkind, mit doch seeeeehr großem Respekt vor Tieren, wollte unbedingt wie meine Oma in aller Herrgottsfrüh aufstehen und mit ihr die Kühe auf die Weide führen und dann zurückkommen, in den Garten gehen, frühstücken, abwarten bis die Sonne die Mittagshitze verlässt (was so viel wie schlafen bedeutet – das war der allercoolste Part) und dann auf dem Feld arbeiten. Und am Abend natürlich die Kühe wieder heimholen. Immer, wenn sie mich nicht aufweckte, und das war fast immer der Fall, war ich so beleidigt. Damals kannte ich die Begriffe Morgen- und Nachtmensch nicht und wusste natürlich nicht, dass ich zur zweiten Sorte gehöre, aber na und?! Jedenfalls hatte ich im Beisein meiner Oma vor keinem einzigen Tier oder Ort Angst. Sie war so cool und furchtlos! Okay, ich habe mich auch in ihrer Gegenwart nicht, getraut Kühe zu melken, aber wer mich kennt, weiß, was es heißt, wenn ich Kühe streicheln kann und mir zutraue, ihre Hirtin zu sein (ohne melken!).

Dann war auch meine zweitälteste Schwester voll cool, und auch ihr wollte ich unbedingt nacheifern. Sie war so gescheit und gebildet und belesen und cooool! Mein Vater nannte sie immer „unsere Professorin“, und das wollte ich auch werden. Danke, dass du mich so gefördert hast, Nursen Topal. Auch wenn ich dir weiterhin nicht das Wasser reichen kann!

Meine doch etwas ältere Cousine hatte ein „Prinzessinenkleid“ auf der Hochzeit ihres Bruders, sie selbst war damals höchstens Jugendliche(?). Und natürlich wollte ich auch eins. Das bekam ich dann auch und hatte es selber auf der nächsten Hochzeit an!

Dann trug meine drittälteste Schwester eine Zeit lang ein Kopftuch, und das fand ich auch voll cool! Und deshalb wollte ich auch eins tragen. Ich glaube, ich war damals neun. Und ich trug für sieben oder acht Tage ein Kopftuch. Also auch in der Schule! Und natürlich trug ich es auf meine Art! Das fand meine Mutter lustig, aber ich war der festen Überzeugung, dass es so am schönsten ist. Meine Volksschullehrerin kann diese acht Tage, entspricht sechs Schultagen, bis heute nicht vergessen! So wenig, dass sie mich vor ca. eineinhalb Jahren nochmal fragen musste, ob ich damals eh nicht gezwungen wurde. By the way, das ist ein Foto aus dieser Zeit. Ganz schön islamistisch, vor dem Weihnachtsbaum und dieses Lächeln, nicht?

Weil ich ein Kind war, dass man zu etwas zwingen konnte? Ich habe meine ganze Kindheit getan, was ich wollte. Fußball gespielt, als es für Mädchen noch tabu war, Basketballkarten gesammelt und jeden Jungen mit meiner silbernen Jordan-Karte ausgestochen, Prinzessinkleider angezogen, wenn ich wollte, Schmuck gebastelt und getragen als das Kind einer Frau, die nicht einmal ihren Ehering trägt – so frei ist sie! Ich hatte kurze Haare, wenn ich wollte oder lange, wenn ich sie lang wollte. Und wenn ich darauf bestand, dann wurden sie mir auch rasiert!

Aber genau das macht die ganze „Debatte“ seit Jahren um „Islam“, „Muslime“, „Musliminnen“, „Kopftücher“ etc. mit uns. Wer glaubt, dass das mit den Menschen, die diese Debatten konsumieren, nichts macht, irrt! Wer nach 22 Jahren die Sorge hat, dass ich als Kind ganze sechs Schultage zum Kopftuch gezwungen wurde, ist durchtränkt von der Propaganda!

Okay, ich fand meine Mutter nicht cool, aber es gibt durchaus Kinder – Jungen und Mädchen –, die ihre Mütter sehr cool finden. Und wenn diese Mütter die neuesten Modetrends anziehen und sich dabei so schön schminken, wird es ebenso Töchter geben, die das auch wollen. Und wenn sie Kopftücher tragen, dann wollen Töchter das auch! Kinder lieben und verehren ihre Eltern in der Regel und wollen ihnen nacheifern!

Als ich meinen damals achtjährigen Neffen fragte, was er später werden will, sagte er wie das aller selbstverständlichste auf der Erde, „Na, Baba!….Oder Clown.“ (Den Clown in ihm haben wir bis heute nicht entdeckt). Jedenfalls war ihm nicht klar, warum ich da nachfragte. Was außer Papa soll er werden wollen?

Ich weiß, dass die Propaganda der letzten Jahre uns dazu verleiht anzunehmen, dass Muslim_innen keine Menschen, sondern entweder Objekte oder eine Gefahr seien. Aber muslimische Kinder sind keine Aliens, sie sind Kinder. So wie nichtmuslimische Kinder. Und Kinder eifern bis zu einem gewissen Grad vor allem ihren Eltern nach, machen ihre Erfahrungen damit, kommen in die Pubertät und reflektieren, rebellieren und suchen ihren Weg, den sie früher oder später auch finden.

Sätze wie „Ich erziehe mein Kind wertneutral, soll es sich selbst finden“ sind gelogen. Wenn wir unsere Kinder „neutral“ und „ohne irgendwelche persönlichen Werte und Vorstellungen“ erziehen wollen, dann belügen wir uns selber, weil das nicht funktioniert! Dazu müssten wir uns aus der Beziehung und Erziehung komplett herausziehen, und das bedeutet Trennung, absolute Abwesenheit. Wir erziehen aber unsere Kinder mit dem, wer und wie wir sind, ob wir wollen oder nicht! Und unsere nicht so schönen Seiten kriegen unsere Kinder genauso mit wie unsere schönen. Wie viele Eltern hoffen inbrünstig, dass das Kind sich für die Schönen entscheidet? Für unsere konsequente, aber nicht die verständnislose Seite. Für unsere humorvolle, aber nicht für unsere unordentliche Seite. Für unsere Bemühungen und nicht Misserfolge…… Das ist unsere Geschichte, das macht uns aus! Unsere Auseinandersetzungen mit uns und unseren Eltern! Wozu gibt es die Pubertät und die Rebellion? Das ist die Zeit, in der wir uns oft (un-)bewusst mit unseren Eltern auseinandersetzen und dann sagen: „Ich werde sicher nicht so wie sie!“, und oft werden wir’s aber. Bitte, zeigt mir einen Menschen, der diese Auseinandersetzung kein einziges Mal in seinem Leben hatte! Bitte! Während Kinder es cool finden, wie ihre Eltern zu sein, ist das für Erwachsene oft das uncoolste überhaupt. Wer war nicht beleidigt, wenn er oder sie mal mit seinen/ihren Eltern verglichen wurde? Und für diese Erkenntnis braucht’s keine Psychotherapeut_innen oder Freuds, die uns das bestätigen (abgesehen davon, dass sie uns das oft genug bestätigt haben). Es reicht schon, wenn wir ehrlich mit dem Thema umgehen und uns fragen, worum es dabei wirklich geht.

Hört auf, sogar Kinder zu Objekten zu machen und sie für irgendwelche Propagandazwecke zu missbrauchen! Das schickt sich nach dem Jahrhundert des Kindes nicht! Kinder sind Kinder sind Kinder. Lasst sie das auch sein! Und wenn sie ihren Eltern, Geschwistern, Großeltern, Cousins/-en, Nachbarskindern, Lehrer_innen nacheifern wollen, lasst sie! Sie werden sich und ihren Weg schon finden.

Mihrican Topal

Über Murat Gürol

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